Das Hotel Bellevue mit Blick auf Bahnhof und Hafen von Genua ist gewiss keine Luxusherberge und auch kein posto piacevole wie unser appartamentino im Orto Botanico, aber wir konnten gut schlafen und bekamen sogar noch ein gut sortiertes Frühstück, obwohl Samstag um Sieben noch keine offizielle Zeit für die prima colazione war. Unsere Räder waren von fleißigen Händen unter ein Vordach geschleppt worden – wir hatten sie mit den vorderen Rahmenschlössern abgesperrt. Wir trugen sie die Treppe hinunter, packten vor dem Hoteleingang auf und fuhren das kurze Stück hinunter zum Bahnhof. Dort haben wir dann zwischen Treppen, Rolltreppen und Aufzügen irgendwie die Orientierung verloren, so dass die Zeit am Ende doch etwas knapp wurde. Als dann der Lift zum Gleis nicht reagieren wollte und die Einfahrt des Zuges schon angesagt war, trug ich mein voll beladenes Rad die Treppe zum Bahnsteig hinauf und schaffte es gerade so, mit weichen Knien heil oben anzukommen. Friederike zog es vor, abzuladen. Im Zug gab es ein echtes Fahrradabteil und Sitzplätze in Sichtweite. Ein Italiener mit lückenhaften Zähnen und großflächigen blauen Flecken an den Armen erzählte, wie weit er schon als Fan seines Fußballvereins in Europa herumgekommen sei. Auch jetzt sei er unterwegs nach Mailand, um ein Auswärtsspiel zu sehen. Er zeigte uns ein Tattoo des Vereinsemblems an seinem Arm. Es gäbe keine Fußball-Sonderzüge mehr, seit die Tifosi immer die Wagen zerlegt hätten. Es gäbe überhaupt zu viel Gewalt im Fußball, aber er halte sich heraus. Diese gesagt habend schaute er eine Weile gedankenvoll zum Fenster hinaus und berührte wie prüfend seine verbliebenen Zähne. Wir wollen ihm glauben.
In Milano reichte unser Aufenthalt, um den Bahnhof zu verlassen und eine Runde durch die Umgebung zu drehen. Bei einer Bar kehrten wir zu Cappuccino ein. Der alte Barista warnte uns – ‚occhio!‘ – nur gut auf unsere Räder und das Gepäck aufzupassen. Es gäbe zu viele Albaner, Zigeuner und andere in der Stadt, die alles klauten und verkauften. Es sei nicht mehr gut. Ich fragte ihn noch nach einem nahen Supermarkt und wir fuhren hin, um uns mit Wasser und Proviant zu versorgen. Als wir auf dem Weg zum Bahnhof nochmal an seinem Lokal vorbeifuhren, rief er grüßend heraus. Auch der Bahnhof von Mailand verwirrte durch die Vielzahl der Etagen und Zugänge. Am Ausgang vom Bshnhofsgebäude zu den Bahnsteigen wieder Sicherheitskontrollen. Nur wer ein Ticket hatte, durfte zu den Zügen. Die Abfahrtsbahnsteige wurden sehr kurzfristig bekannt gegeben. Vor der Anzeigetafel bildete sich eine lange Menschenschlange.
Am Bahnsteig dann das bekannte Suchen nach den richtigen Wagen. Dort, wo sich unsere reservierten Sitzplätze befanden, war kein Platz für die Räder. Der war ein paar Wagen weiter, aber die Leute hatten ihn mit Koffern zugestellt. Ein Schaffner schuf uns Platz. Die Leute murrten. Diesmal waren wir in einer Sitzgruppe mit einer dicken Frau und einem älteren Mann, der alsbald zu erzählen begann, dass er seit seiner Pensionierung schon in vielen Ländern mit dem Rad unterwegs gewesen sei. Südamerika und Cuba, Deutschland, die Strecke Turin – Istanbul und einiges mehr.
In Verona hatten wir Zeit, in den Park auf dem Stadtwall zu fahren und dort auf einer Bank Brotzeit zu machen. Anschließend gab es noch Cappuccino vor einer Bar. Dann ging es wieder zurück zum Bahnhof und – liftab, liftauf – zum Gleis. Wo wieder einmal völlig unklar war, wo unser Wagen wäre. Den Platznummern nach würde es wieder, wie auf dem Hinweg, einer dieser Waggons sein, die an jedem Ende genau einen Fahrradhaken haben. Wir warteten gespannt. Immerhin erschienen kurz vor Einfahrt des Zuges auf blassen Monitoren entlang des Bahnsteigs die Nummern der dort haltenden Wagen und wir konnten uns orientieren. Das mit den verschiedenen Wagenenden war wieder doof, weil wir uns trennen mussten und einander nicht beim Einsteigen helfen konnten. Ich wollte mit beladenem Rad in den Zug und bat einen Mitreisenden, mir zu helfen. Die Aufhängevorrichtung war auch hier zu niedrig für mein Fahrrad angebracht, so dass ich es kopfunter mit eingeschlagenem Lenker hängen musste. Alle diese Unterbringungsmöglichkeiten für Fahrräder in den Zügen sind irgendwie unpraktisch. Sie sollen vor allem Platz sparen und taugen nicht für größere und schwerere Reiseräder mit breiten Lenkern und dicken Reifen. Am angenehmsten sind Abteile, in die man sein Fahrrad ebenerdig hineinschieben und beladen abstellen kann, aber die gibt es auch in Deutschland nur selten. Immerhin kamen wir unter, fanden unsere Plätze und rollten den Alpen entgegen, in deren höheren Lagen immer noch Schnee lag, während im Tal die Obstbäume zu blühen begannen.
In Zügen kann man lesen, schreiben, dösen, hinaus in die Landschaft gucken oder drinnen die Leute beobachten. Dabei kristallisieren sich mit der Zeit Regeln der Menschenkenntnis heraus. Eine davon heißt: Je dicker, desto fress. Menschen, deren Körpergewicht deutlich erkennbar jegliches Maß überschritten hat, hören nicht etwa auf zu essen, wie es ihnen der Arzt bestimmt schon längst geraten hat, sondern sie führen den reichlichsten Reiseproviant mit sich und sprechen ihm am eifrigsten zu. Man kann kaum hinschauen.
Die Frau, die auf einem großen Teil dieser Fahrt die Vierer-Sitzgruppe neben der unseren alleine einnahm, begann sich nach einer Weile mit ihren enggelockten, rotbraun gefärbten Haaren zu beschäftigen. Sie studierte ausgiebig deren Spitzen, entwirrte sie und wo sie unter Spliss litten, knabberte sie die Enden ab. Manche Menschen sind von köstlicher Unbefangenheit, wenn sie sich unbeobachtet fühlen.
Wir hörten gemeinsam mit Kopfhörern Musik von meinem Telefon, Friederike las auf dem Tablet die heimatlichen Tageszeitungen, die ich noch am Bahnhof in Milano heruntergeladen hatte, als es freien WLAN-Zugang gab. Unser Zug überquerte den Brenner, wo auch auf näher gelegenen Höhen noch Schnee lag und fuhr durch wieder grüner werdende Landschaft abwärts. Bis Rosenheim das übliche Erstaunen, wie weit das österreichische Mobilfunknetz reicht und wie lausig anschließend das deutsche ist.
Hinter Rosenheim wurde der Zug sehr langsam. Mit der Zeit wurde uns klar, dass wir nicht die übliche Strecke nach München Ost fuhren, sondern auf der Mangfallbahn nach Holzkirchen unterwegs waren. Bemerkenswerter Weise kamen wir am Ende aber doch fahrplangerecht pünktlich am Hauptbahnhof an. Beim Aussteigen stellte ich fest, dass die Kette an meinem Rad herausgesprungen war. Es wäre zu umständlich gewesen, am Bahnsteig den Kettenkasten zu demontieren, um das in Ordnung zu bringen. Die Fahrt nach Hause wurde etwas langwierig, weil wir am Ostbahnhof umsteigen mussten. Und, man glaubt es kaum, der Lift an Gleis 3/4 ist zu klein für Fahrräder. Aber am Ende kamen wir gut an und Anna hatte schon für uns gekocht.
Das waren unsere ~400 km Sizilien: