27. Mai 2015 – Brest – Minsk

Die Nachtfahrt in dem noblen Schlafwagen war kurz und unruhig, der Lauf rau und schwankend von den ungleichmäßigen Schienen, alles vibrierte, wackelte und klapperte. Und durch eine Stunde Zeitverschiebung blieb uns nicht viel Schlafenszeit bis zur Ankunft in Minsk.

Die Morgentoilette auf dem Zugklo fiel eher knapp aus. Seife gab es aus einer kleinen Getränkeflasche, weil der Seifenspender nicht funktionierte, Waschwasser kam in hartem prickelndem Sprüstrahl, die Absaugspülung der Toilette erschreckte uns durch infernalisches Schlürfen und den automatischen Luftverbesserer ersetzte eine Sprühdose mit der aufgedruckten Duftnote „After the Rain“. Erste Verfallserscheinungen der noblen Technik deuteten sich an.

In der Nacht hatte die Stewardess mit der Haltung einer energischen Krankenschwester abgepackte Frühstückshörnchen verteilt und kleine Plastikbehälter mit Kaffeepulver, Sahnedöschen, Zucker, einer winzigen Serviette, einem Erfrischungstüchlein und einer Waffel. An heißem Wasser zum Aufbrühen ließ sie es jetzt um Zwei am frühen Morgen leider fehlen. Stattdessen wies sie uns mit Nachdruck darauf hin, dass die bereitgestellten kleinen Stoffhandtüchlein unbedingt zum Verbleib im Zug bestimmt seien.

Pünktlich auf die Minute kamen wir in Minsk an. Wir stiegen aus, ignorierten am Bahnsteig die unaufdringlichen Taxiangebote und folgten zuerst, die Richtung mehr ahnend als an der kyrillischen Beschilderung ablesend, einer langen Flucht menschenleerer unterirdischer Gänge, bis wir auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes an die Oberfläche gelangten. Es dauerte eine Minute, bis mein Telefon das GPS-Signal gefunden hatte, dann führte es uns anhand der bereits zu Hause heruntergeladenen OSM-Karte sicher in Richtung Hotel Garni, wo wir gebucht hatten.

Die Straßen riesig breit und menschenleer. Alles wirkte jetzt, um halb Drei in der Nacht, aufgeräumt, sauber und sicher. Kein Müll, kein Gestank, keine Alkoholleichen. Auf den Hauptstraßen einige Taxis. Das Hotel war, wie versprochen, geöffnet. Auf unser Klingeln am Tresen erschien eine höchst freundliche junge Frau, nahm unsere Pässe entgegen und händigte uns die Schließkarte für unser Zimmer aus. Edles Ambiente in dunklem Holz. Wir staunten, packten ein Wenig aus und legten uns in die bequemen weichen Betten.

In der Nacht gab es ein kräftiges Gewitter, sonst blieb es angenehm ruhig, bis um sechs Uhr etwas Autoverkehr begann. Wir ließen uns nach der geteilten Nachtruhe reichlich Zeit und waren erst um halb Zehn auf der Straße.

Noch mehr als in der Nacht staunten wir bei hellichtem Tag über die Dimensionen der Straßen und Plätze, die nicht den Bedürfnissen des Verkehrs, sondern denen nach Repräsentation und Prachtentfaltung geschuldet zu sein scheinen. Der einzelne Mensch wirkt in solchen Weiten verloren und hat lange Wege zu laufen.

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Am Unabhängigkeitsplatz mit dem Lenin-Denkmal gegenüber dem Bahnhof wird das besonders deutlich. Wir besuchten nebenan eine pfingstlich geschmückte katholische Kirche, dann wechselten wir Geld bei einer Bankniederlassung im Bahnhof, wo wir auch einen kräftigen Regenguss abwarteten. Für 100 Euro bekamen wir 1.566.000 BIR. Keine Münzen. Ein Toilettenbesuch kostet 5.000, ein Kilo Bananen 20.900, zwei Milchkaffee 32.000. So weit die Erfahrungen aus dem weitläufigen Einkaufszentrum unter dem Platz. Wir versuchten, ein Gefühl für die Preise zu entwickeln. Die fremdartige kyrillische Schrift ist ebenso gewöhnungsbedürftig,wie die Währung, zumal es verschiedene Typografien gibt, in denen die Zeichen sehr unterschiedlich aussehen. Hinzu kommen westeuropäische Schreibweisen, wie „Stop“, „WC“ und natürlich die auch hier allgegenwärtigen internationalen Marken.

Wir machten Halt in einem schmalen Park, sahen uns das Altstädter Rathaus an, dann eine orthodoxe Kirche in der Nähe, saßen nebenan auf einer Bank bei einem Brunnen,  umrundeten das Kloster und beschlossen dann, uns im nahen Hotel etwas auszuruhen und uns etwas wärmer anzuziehen, denn es wehte ein kräftiger kühler Wind.

Später machten wir nochmal einen Rundgang, sahen ein Quartier, in dem jedes zweite Auto ein SUV westlicher Provenienz war, moderne Hochhäuser, einen Showroom von Bentley, eine anrührende Gedenkstätte für die Gefallenen des Afghanistan-Krieges und schließlich, auf einem Hügel, die pompöse Oper im stalinistischen Monumentalstil, wo erste Besucher der Abendvorstellung einzutreffen begannen.

Im Schutz einer nahe gelegenen Baumgruppe hatten Jugendliche ein winziges Feuerchen gemacht.  Es schien uns wie ein kleines Aufflackern von Unbotmäßigkeit in dieser aufgeräumten, blitzsauberen Stadt, wo niemand bei Rot über die Straße geht.

Wir begannen, ein Abendessen zu suchen. Sehr von Nachteil ist, dass vor den Lokalen keine Preistafeln angebracht sind, und nur selten Speisekarten mit für uns verständlichen Bezeichnungen. Und wo wir doch einmal einen Preis sehen konnten, begann angesichts der sechsstelligen Zahlen das verwirrende Umrechnen.

Unsere Suche endete im Restaurant des Hotels, und das war keine schlechte Idee, denn das Essen war ausgezeichnet. Neben uns tafelte eine größere Gruppe Frauen. Für sie war so üppig aufgetischt, dass die Reste noch in gut zwanzig Styroporboxen gefüllt werden konnten, die eine der Frauen am Ende mitnahm. In einer Ecke des Saales gab es eine winzige Bühne, von der her etwas zu laute Popmusik mit kräftigen Bässen erklang. Später gingen auch noch eine blinkende Discokugel und einige Lightshow-Panels in Betrieb, und ein Karaokesänger gab etliche Stücke zum Besten. Als erstes verhunzte er einen Song von Sting, dann folgten zum Glück Lieder mit einheimischen Texten, die er überzeugender darbot. Sein Auftritt war dennoch irgendwie unnötig, denn schon bald waren nur noch wir und drei ältere Frauen anwesend, von denen eine beim Aufstehen spektakulär zwischen die Stühle stürzte. Ihre Freundinnen halfen ihr auf, die Kellnerin deckte ungerührt weiter fürs Frühstück. Wir gingen alsbald zu Bett.