3. Juni 2015 – Moskau

Diese Nacht ruhte die Baustelle, so dass wir ungestört schlafen konnten. Eine Spezialität hatte unser Zimmer noch zu bieten: Egal, ob man den Warmwasser- oder den Kaltwasserhahn aufdrehte, es kam sehr heißes Wasser. Erst wenn man das „kalte“ Wasser länger stark abfließen ließ, wurde es kühler. Dafür war die Klobrille morgens schön warm, denn auch der Spülkasten war heiß.

Wir kamen diesmal etwas spät zum Frühstück und suchten schnell alles zusammen, was wir essen und trinken wollten, denn wir hatten in den letzten Tagen gesehen, dass das Buffet zum Ende der Frühstückszeit kurz nach Zehn recht konsequent abgeräumt wird.

Moskau - Kreml

Die Wettervorhersage kündigte Sonnenschein und 28 Grad an. Wir hatten beschlossen, den Kreml zu besichtigen. Der ist nicht so hermetisch abgeschlossen, wie man sich das vielleicht vorstellt. Natürlich gibt es Sicherheitskontrollen und viele Wächter, wie überall in dieser Stadt, und längst nicht alle Areale sind zugänglich, aber in den Besucherbereichen kann man sich frei bewegen. In den dunklen Kirchen gab es einiges Gedränge, hauptsächlich von Asiaten, vermutlich Chinesen. Draußen war es sommerlich heiß, die goldenen Kuppeln der Kirchen glänzten in der Sonne und das gleißende Weiß ihrer Wände stach in die Augen. Wir sahen uns alles gründlich an. Chrustschows Glaspalast, der etwas derb und unpassend dasteht, bekam gerade die Fenster geputzt. Dazu seilten sich die Fensterputzer/innen auf Bettchen sitzend von der Gebäudeoberkante ab, wie wir das auch schon an einem anderen Ort in der Stadt bei einem Bauarbeiter gesehen hatten, der mit Verputzarbeiten beschäftigt war.

Moskau - Fensterputzer im Kreml

Wir verließen den Kreml, holten unser Gepäck von der Aufbewahrung und gingen weiter. Im Café Wolkomsky, wo die Wände mit Kopien einiger Zeichnungen von Sempé dekoriert sind, bekamen wir bei französischer Musik süße Teilchen zum Tee. Auf unserem weiteren Weg begegnete uns eine weiße Honda Gold Wing, von der laute Musik mit dröhnenden Bässen ausging. Der Fahrer trug Hemd und Hose, als käme er gerade aus dem Büro, und dazu einen altenglischen Bobby-Helm. Es gibt hier jede Menge Exzentriker, die sich ungeniert ausleben, und eine oft recht derbe Art, Reichtum zur Schau zu stellen. So sieht man zwischen den vielen schwarzen Limousinen immer wieder auch flache Sportwagen in knalligem Rot oder sehr ausgefallene Lackierungen, wie z.B. einen großen Mercedes-Geländewagen in Post-Gelb mit schwarzen Zierstreifen.

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Nicht ganz leicht war es, in der Gegend unseres Hotels einen gewöhnlichen Supermarkt mit normalen Preisen zu finden. Durch die Nähe zum Kreml und die teure Geschäftslage gabt es nur hochpreisige Lebensmittelläden. Nach einigem Laufen fanden wir doch noch ein Geschäft, in dem wir uns relativ günstig mit Wasser und Proviant für die Heimreise eindecken konnten. Dafür mussten wir die Tüten dann recht weit schleppen, bis wir im Hotel waren. Dort ruhten wir ein wenig aus und gingen dann auf Empfehlung der Rezeptionistin in ein nahes Lokal mit dem Namen „My-My“ (Muh Muh) und einer großen Kuh davor. Da gab es bei einem Klangteppich westlicher Lounge-Musik anständiges lokales Essen in Selbstbedienung zu zivilen Preisen.

Wir flanierten noch durch den lauen Sommerabend, saßen auf einer Bank auf dem Platz hinter dem „Zentralen Universal-Magazin“ und sahen den Leuten zu. Ringsum saßen junge Leute mit Bier in Plastikbechern, das vor einem Lokal frisch vom Fass ausgeschenkt wurde. Frauen in knappen Sommerkleidern kamen vorbei, solche mit extrem hohen dünnen Absätzen. Paare liefen die Straße entlang, saßen am Rand, umarmten sich in eindeutiger Weise. Moskauer Erotik ist anders, als die in Rom oder Paris. Nicht zudringlich, aber auch nicht romantisierend oder verspielt, sondern direkt, physisch und durchaus anregend, fanden wir beide.

Moskau "Zentrales Universal Magazin"

Mit einem Mal erklang Musik, so laut, dass sie den großen Platz beherrschte. Sie kam aus einer am Rand geparkten schwarzen Limousine. Zuerst russischer Pop im italienischen Stil, dann kräftige internationale Rhythmen. Der Fahrer saß ganz ruhig bei geöffneten Türen da und ließ sich und den Platz beschallen. Wir holten uns auch von dem Bier und setzten uns wieder auf eine Bank. Hinter uns baute sich der Mann mit der singenden Säge auf, den wir schon vor dem Kreml und an mehreren anderen Stellen der Stadt angetroffen hatten. Seine erste Nummer war „Country Road“, später kam „Michelle“ von den Beatles. Skater flitzten vorbei und zwischen den Passanten hindurch, hinter den roten Vorhängen des mittlerweile geschlossenen Kaufhauses erkannte man die Silhouette einer Person, die sich umzog. Der Musiker spielte „Besame Mucho“. Drei beleibte junge Frauen in gewöhnlichen Jogginganzügen ritten auf stämmigen Pferden vorbei. Wir spekulierten, ob es am Kontrast zwischen dem frostigen Moskauer Winter und der jetzigen sommerlichen Wärme liege, dass die Menschen so ganz besonders gelöst wirkten. Die singende Geige hatte zu schnulzigen Klängen gefunden. „El Condor Pasa“. Ich holte noch ein Bier. Vor dem Lokal dröhnte „Sex Bomb“ von Tom Jones. Die Säge intonierte „Strangers in the Night“. Als wir eine halbe Stunde vor Mitternacht den Platz verließen, war der Bierausschank geschlossen, aber das bunte Treiben schien noch lange nicht beendet. Wohl aber unser Aufenthalt in Moskau, denn das war unser letzter Abend in dieser auf ganz unerwartete Weise faszinierenden Stadt.