Der Tag begann interessant. Als wir starten wollten, war auf mysteriöse Weise fast alle Luft wieder aus den Reifen an Friederikes Fahrrad gewichen, die sie am Vortag noch extra hineingepumpt hatte. Also wurde nochmal gepumpt und das hielt. Dann verschätzte ich mich beim Aufsteigen mit dem Gepäck, blieb mit dem Fuß hängen, strauchelte, verlor durch die ungewohnte Beladung das Gleichgewicht und machte eine Bauchlandung. Passiert ist zum Glück weiter nichts. Nachdem so schon zwei größere Missgeschicke vorweggenommen waren, konnten wir getrost zum Bahnhof radeln. Die S-Bahn hatte etwas Verspätung, aber wir hatten wie immer großzügig geplant und kamen noch bei weitem früh genug zum Zug nach Verona. Der fuhr von dem berühmten Gleis 11, wo schon meine allererste Italienreise ihren Anfang genommen hatte, unzählige danach und nun also auch diese.
Es gab kein Fahrradabteil, sondern an beiden Enden der meisten Waggons je eine Aufhängung für ein einzelnes Velo. Das war ein wenig blöd, weil unsere Räder so an entgegengesetzten Enden des Wagens untergebracht waren. Zudem war die Aufhängung für mein etwas längeres Fahrrad zu niedrig, so dass ich es kopfunter mit eingeschlagenem Lenker aufhängen musste. Aber wir haben es geschafft und der Waggon war ziemlich leer.
Bis Rosenheim fuhr der Zug im Gespann mit einem anderen, der Budapest zum Ziel hatte. Diese Reihung, mit einer Lokomotive in der Mitte, scheint selten zu sein. Jedenfalls warteten entlang unserer Route mehrere Fotografen und Filmer, um uns abzulichten, einer stand sogar mit einer Trittleiter auf einem Feldweg. Etwa ab Innsbruck konnten wir anhand der GPS-Aufzeichnungen nochmal unsere Vorjahresroute verfolgen, auf der wir über den Brenner geradelt waren. Nur war die Landschaft diesmal winterlich und kahl.
Südlich des Brenner wurde der Schnee langsam weniger. Wir sahen Weingärten, in denen die einzelnen Triebe für das Jahr sorgsam aufgebunden, aber noch vollkommen kahl waren. Ähnlich standen auch die Spindelbäume der Apfelplantagen nackt und bloß und zugeschnitten da, bereit, vom Frühling erweckt zu werden. Einzelne Forsythien leuchteten gelb auf, ein paar weiße Sträucher kamen hinzu und brachten Farbtupfer ins Graubraun.
In Verona stiegen wir aus, bepackten unsere Räder, fuhren mit dem Lift hinunter und an Gleis 6 wieder hinauf zum Eurocity Richtung Genf, der uns nach Mailand bringen sollte. Es begann, spannend zu werden. Nicht nur, weil der Bahnsteig ziemlich voll wurde und wir wieder einmal raten durften, wo unser Wagen mit den Fahrradplätzen halten würde, sondern auch, weil eine Laufschrift auf allen Anzeigetafeln einen vierundzwanzigstündigen Eisenbahnstreik ankündigte, der am Abend beginnen sollte. Unser Zug kam und wurde ziemlich voll, aber die Leute wollten ihre großen Rollkoffer lieber bei sich haben und zwängten sich damit durch die Gänge. Die Gepäcknische im Eingangsbereich blieb somit zum Glück %frei für unsere Räder und einen gefalteten Kinderbuggy.
Südlich von Verona sahen wir die erste Obstbaumblüte. Der schweizer Zug mit Zielstation Genf war ziemlich eng gebaut und gut besetzt, vor allem mit Businesspeople, die jetzt, am frühen Abend, eifrig die Stromsteckdosen nutzten, um ihre Telefone nachzuladen. Einmal entstand eine Debatte über einen der reservierten Plätze. Es obsiegte ein junger schmaler Anzugträger mit Brille und Dreitagebart, an dem sein rosafarbenes iPhone und die bis aufs Blut abgenagten Fingernägel besonders auffielen. Neben mir saß ein Dicker in Nadelstreifen, mit halblangem graumeliertem Haar, der auf seinem iPhone einen modernen Western schaute. Gegenüber schlief eine gut gekleidete Dame mittleren Alters mit offenem Mund.
So gelangten wir nach Mailand und wollten uns erst einmal nach den Fahrgelegenheiten am Streiktag erkundigen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich in einem tieferen Stockwerk des riesigen Bahnhofs ein Servicecenter gefunden hatte, wo Wartenummern an die Auskunftsuchenden vergeben wurden. Meine Zahl war hoch genug, dass ich zu Friederike zurück gehen konnte, die mit den Rädern auf der Bahnsteigebene gewartet hatte. Wir nahmen einen Lift nach unten und postierten uns mit den Rädern vor einer der Anzeigetafeln, auf denen die Aufrufnummern zu den sechzehn Schaltern angezeigt wurden. Die Auskunft, die wir nach langem Warten endlich von einem müde wirkenden jungen Menschen erhielten, war lapidar: Ja, um 7:25 und um 12:25 würden Züge nach Genua verkehren, und nein, sie würden wohl nicht überfüllt sein. Unser Glaube war zu schwach, um angesichts des Streiks auf eine so einfache Weiterreise zu hoffen. Wir entschieden uns deshalb für den früheren Zug. Dann hätten wir bis zur Abfahrt unseres Schiffs am späten Abend noch einigen Spielraum, um auf Eventualitäten zu reagieren.
Das Navi führte uns brav zum Hotel Centrale an einer Seite des riesigen Bahnhofsgeländes. Zwei vor der Tür rauchende junge Araber erwiesen sich als das zuständige Personal. Die Fahrräder konnten wir in einem gesicherten Hinterhof parken, wofür immerhin je fünf Euro berechnet wurden. Das Zimmer für insgesamt also 83,- Euro war groß, modern und sehr sauber.
Wir richteten uns ein und gingen dann ein paar Häuser weiter zum Essen. Le Cose Particolari ist ein eher einfaches Lokal, wo Stammgäste zum Essen gehen. Eine rundliche Signora kocht, ein dienstergrautes Männlein mit dicker Brille bedient beflissen und hätte uns sicher gerne noch mehr gebracht, aber wir hatten Pizza Vegetariana bzw. Calzone Farcito und zwei Liter Wasser für 23,50 und waren zufrieden.
Wir liefen das kurze Stück zurück zum Hotel, programmierten unsere Wecker auf viertel vor Sechs und gingen zu Bett.